Heroische Weltsicht. Hitler und die Musik, Köln u.a.: Böhlau 2014, 300 S.

 

Klappentext:

Das frühe Interesse Hitlers an Musik und Theater ließ Einstellungen reifen, die für seine Selbstwahrnehmung und die eigene Inszenierung, aber auch für das Musikleben und die Musikpolitik im "Dritten Reich" von großer Tragweite waren. Obgleich über Hitlers Nähe zu Musik und Theater viel geschrieben wurde, sind Fragen offen. Insbesondere die Verbindungen Hitlers zu Richard Wagner und die Rezeption dessen Werkes durch die Nationalsozialisten weisen Widersprüche auf. Einerseits sah Hitler in dem Komponisten eine Symbolfigur der antisemitisch-deutschnationalen Bewegung Österreichs, andererseits war sein Opernenthusiasmus wesentlich durch Aufführungen jüdischer Künstler geprägt. Hitler entwickelte sich über die Welt der Oper hinaus in die Politik hinein, das "Heroische" wurde ihm dabei zur Leitkategorie. Er entwarf Bühnenbilder, konzipierte Opernhäuser, versuchte sich an einem eigenen Musikdrama. Vor allem aber machte er sich die sinnlichen Inszenierungstechniken und -künste der Oper zu Eigen für seine politischen Auftritte. Sebastian Werr wirft ein neues Licht auf Hitlers musikalische wie theatralische Begeisterung, die nachhaltig seine Persönlichkeit, sein Auftreten und Handeln geprägt und beeinflusst hat.

 

Ausgewählte Pressestimmen:

Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 28. April 2015

Wie sehr Adolf Hitler seinem rigiden Wagner-Wahn anhing, ist bekannt. In den Tagebüchern des Propagandaministers Joseph Goebbels lässt sich mit Schaudern nachlesen, dass die Spitze der nationalsozialistischen Führung noch in der letzten Kriegsphase ausführlich Konversation über Lieblingskomponisten betrieb. Mittlerweile scheint jede Facette im Leben des "Führers" ausgeleuchtet. Doch der neue Band von Sebastian Werr bietet ein Bild seiner Beziehung zur Musik, das so kongruent noch nicht gezeichnet wurde, selbst wenn es in den Einzelheiten nichts grundlegend Neues bietet. Nach den frühen biografischen Stationen Linz, Wien und München blendet der Autor über zu Hitlers kulturpolitischer Praxis sowie zu seinem Agieren auf der Bühne der Politik. Dies ist zweifellos folgerichtig. Denn ganz offenbar wurde der Verführer der Massen erst durch seine (einseitige) Opern-Rezeption dazu motiviert, alles, was er tat, als eine einzige grosse Inszenierung anzulegen – als "Künstler" sah er sich zeitlebens ohnedies. Werr fügt nun nicht bloss die Belege für ein bizarres Selbstbild und die daraus erwachsende "heroische Weltsicht" schlüssig zusammen, sondern bietet darüber hinaus von den heterogenen Grundlagen für die nationalsozialistische Ideologie über die Verstrickungen zwischen Kunst und Gesellschaft das vielschichtige Bild einer ganzen Epoche.

 

Neue Musikzeitung (NMZ), Heft 7/2014

Die zahlreichen Gedenkfeiern im vergangenen "Wagnerjahr" hatten bei aller Beachtung der politischen Folgen Wagner’schen Denkens den Schwerpunkt doch auf dessen Musik und deren Interpretation gelegt. Wie anders vor 100 Jahren, als der 100. Geburtstag des Bayreuther Meisters mit einem heute fast unvorstellbaren nationalen Pathos gefeiert wurde! Alles an Wagner, seine Musik, seine politischen Auslassungen und sein Kraftakt, mit dem Festspielhaus in Bayreuth eine einmalige nationale Weihestätte geschaffen zu haben, wurde beispielhaft für ein endlich zu sich selbst gefundenes Deutschtum genommen.

Wie sehr der 1889 in Braunau am Inn geborene Adolf Hitler in diesem Dunstkreis aufwuchs und von ihm zeitlebens geprägt wurde, ist inzwischen aus vielen Untersuchungen bekannt. So gesehen ist es ein gewisses Wagnis, wenn der Münchner Musikwissenschaftler Sebastian Werr jetzt noch einmal Hitlers Beeinflussung durch Wagners Musik nachzeichnet. Der Autor konzentriert sich zum einen auf die Jugendjahre Hitlers in Linz, Wien und München und analysiert dann, wie stark Hitlers überbordender Größenwahn sein politisches Handeln und besonders die Kulturpolitik des NS-Regimes beeinflusste. Passionierte Briefmarkensammler kennen einen Markenblock aus den ersten Jahren des Regimes mit dem Aufdruck: "Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken". In der Tat sah sich Hitler als ein heroisch Handelnder, Heroismus war Programm. Als ein "Heroe" gedachte Hitler, Deutschland und dann Europa zu führen, und als das Ende überdeutlich nahte, fand er in dem, einem "Heroen" angemessenen, Untergang eine durchaus entsprechende Vollendung. Schon aus den durch eigenes Verschulden kläglichen Lebensumständen vor 1914 hatte sich Hitler immer wieder in ein Reich der Phantasien geflüchtet – eine Phantasiewelt, die durch die Heroen in Richard Wagners Opern geradezu einer Realität gleichkam. Werr umschreibt es so: "In Wagners Selbstdarstellung, vor allem aber in der völkischen Stilisierung erkannte sich Hitler wieder als das verkannte Genie, für das er sich selbst hielt."

Schon als Jugendlicher hatte Hitler im nahen Linz fast alle Opern Wagners gesehen; später in Wien und dann in München erlebte er auch für heutige Begriffe vollendete Aufführungen. Aller Musikgenuss korrespondierte bei ihm mit der heftigen völkischen und antisemitischen Strömung im deutschsprachigen Teil der Habsburger Monarchie, deren Agitation er begierig aufsog. Erstaunlicherweise nahm er an jüdischen Dirigenten wie Gustav Mahler (Wien) und Bruno Walter (München) keinen Anstoß, ja, glaubt man dem Autor, hat er vielen jüdischen Sängern am Linzer Theater akklamiert. Sein Antisemitismus resultierte, so der Autor sehr bestimmt, auch nicht aus Wagners antisemitischer Polemik, sondern aus dem Schock der Münchner Räterepublik.

Die Kulturpolitik des Regimes war nach 1933 geprägt von Hitlers Vorstellungen, wobei mit Blick auf Wagner der Autor zu der treffenden Feststellung kommt, dass der Begeisterung vieler Wagnerianer für den Nationalsozialismus das nur geringe Interesse vieler Nationalsozialisten für Wagner gegenüberstand. Es ist fast amüsant zu lesen, wie Hitler hohe Parteigenossen, die in langen Aufführungen einschliefen und laut schnarchten, zur Räson bringen musste. Er selbst hielt seinen Heroen der Jugend unbeirrt die Treue. Sein Entree im Hause Wahnfried und die enge Beziehung zu Cosima Wagner sind bekannt; wohl nur durch Hitlers Förderung konnten sich die Bayreuther Festspiele bis Kriegsende über Wasser halten. Die Städtische Oper in Charlottenburg wurde zum pompösen Deutschen Opernhaus; gewaltige Pläne hatte er für München und Linz; die Inszenierung der Nürnberger Parteitage mit Musik, Lichtdomen und Menschenmassen entsprang ganz seinem bombastischen Empfinden.

Die auf intensiver Quellenauswertung beruhende Arbeit Werrs beschreibt an einem extremen Beispiel, wie politische Allmachtsphantasien durch künstlerische Eindrücke, hier durch Musik, genährt und gesteigert werden können. Was einmal mehr ein Beleg dafür ist, dass Kunst nicht für sich selbst steht, sondern immer auch in Gesellschaft und Politik ausstrahlt. Gerade in diesem Jahr, wo an die vielen Facetten von Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkrieges erinnert wird, behandelt auch dieses Buch mehr als nur ein musikhistorisches Seitenthema.